Macht, Ohnmacht, Liebe im Horizont der Logotherapie und der „Geistlichen Begleitung 

„Es soll nicht durch Heer oder Macht, sondern durch meinen Geist geschehen.“ Sacharja 4, 6

 

1. Vorbemerkung 

These:

Gott beruft Menschen, die Welt zu gestalten.

Er hat ihn in seine Schöpfung als Co-Creator zum „Bebauen und Bewahren“ eingesetzt. Damit ist Machtausübung verbunden. Sie ist gut.

Auch der Wille zur Veränderung von Dingen, Zuständen und Strukturen ist ein Teil der Berufung des Menschen, nämlich dann, wenn eine Veränderung zum Guten hin möglich ist.

Gut ist, was der Liebe, der Menschenwürde, der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Erhaltung der Schöpfung dient. Gottes Wille ist der Inbegriff des Guten.

Darum gilt: Wer Veränderung und wer Gutes will, muss auch Macht wollen.

Zugleich gilt auch: Ohnmacht ist eine tägliche Erfahrung des persönlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens.

Ohnmacht wird in konkreter Gestalt in einem individuellen Leben jeweils als Krise erlebt. Eine Krise besteht dann, wenn in einer unangenehmen, ungewollten und Leid verursachenden Situation keine Handlungsmöglichkeiten mehr vorhanden sind oder wahrgenommen werden können. 

Krisenerfahrungen werden in der Gegenwart häufig in Worte gefasst.

Zugleich ist auch zu beobachten, dass Menschen, die Krisen durchlebt und bewältigt haben, glaubwürdige Vorbilder, die allgemein akzeptiert werden, sein können.

Der Fokus in diesem Aufsatz liegt bei der biblischen Überlieferung, dem Logotherapeuten, Juden und Überlebenden der KZ-Haft Viktor Frankl und bei den Begründungen der „Geistlichen Begleitung“. Letztere wird in letzter Zeit verstärkt im Raum der Evang.-Luth. Kirche als eigene „praxis pietatis“ und als Fortbildung für Menschen, die andere Menschen spirituell begleiten, angeboten. Historisch und theologisch-systematisch gründet die „Geistliche Begleitung“ in Theologie und Spiritualität des römisch-katholischen Theologen und Begründer des Jesuitenordens Ignatious von Loyola. Der Aufsatz versteht sich auch als bewusst evangelischer Beitrag zu einer zu führenden Diskussion, wie ein evangelischer Blick auf die „Geistliche Begleitung“ akzentuiert werden kann.

Das Thema „Macht“ und „Ohnmacht“ dient dabei als heuristische Sonde.

 2. Biblische Auffälligkeiten

 „Macht der Ohnmacht“ ist ein breites Thema biblischer Überlieferung:

  • Es spiegeln sich in der Bibel offenbar die Machtphantasien unterlegener und machtloser sozialer Verbände. Zum Beispiel stellt uns der Text in Josua 6 eine machtvolle und gewalttätige Einnahme der Stadt Jericho vor. Sie ist in der Tat eine der ältesten Städte der Welt, die durch die Archäologie wieder zu Vorschein kam. Vergleicht man aber diesen Eroberungstext mit den Ergebnissen der biblischen Archäologie, kommt man zu dem Schluss, dass erstens die Stadtmauer Jerichos zur Zeit Josuas nicht intakt und die Stadt selbst kaum bewohnt war. Zweitens erscheint die „Landnahme“ des Alten Testaments eher als soziologischer Umschichtungsprozess denn als Eroberungstat.

Auch das Motiv der Gottesberges Zion weist einen ähnlichen Befund auf: Machtvolle Bilderwelt in der biblischen Überlieferung stehen einer sehr machtlosen Realität gegenüber: Der mächtige Gottesberg „Zion“ ist in Wirklichkeit ein wirklich kleiner und unauffälliger Hügel bei bzw. in Jerusalem.

  • Die Gottesknechtslieder beim Propheten Jesaja (u.a. im Kapitel 53) sprechen davon, dass ein machtloses Individuum das Ersehnte bewirkt: Heil, Heilung und Gerechtigkeit. Man weiß nicht, wer dieser Gottesknecht eigentlich sein soll, wer damit ursprünglich gemeint war: ein unbekanntes Individuum, der Prophet selbst, eine Soziale Gruppe, Israel als Volk? Nicht zuletzt wurde dieses machtlose Motiv auch auf Jesus übertragen. 
  • Jesus Christus als Opfer der politischen und religiösen Elite starb einen furchtbaren Tod. Der Machtlose und zu Tode Gefolterte soll aber auch der sein, dem „alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden“, um Tod und Teufel zu besiegen und die Vergebung der Sünden sowie das ewige Leben zu bewirken. Und der Sieg wird gerade in dem Moment der absoluten Ohnmacht errungen! Das Folter- und Tötungsinstrument Kreuz wurde somit zum Symbol des machtvollen Sieges.
  • Die paulinischen Gemeinden in Korinth und anderswo waren Gemeinschaften der sozialen Außenseiter. Sklaven trafen sich dort, nicht nur aber in der Mehrzahl. Gerade sie, die Machtlosen der damaligen antiken Stadtkultur werden zum Ausgangspunkt der christlichen Globalisierung. Sie sind so attraktiv für die damalige Welt, dass die Missionierung Europas von ihnen ausging. Wir sind die Nachfolger dieser mächtigen Machtlosen. Die Verheißung aus 2. Kor. 12, 9 hat sich in dieser Hinsicht erfüllt: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
  • Die Wort-Gottes-Theologie betont, dass Gottes Wirkweise sich das scheinbar machtlose, zarte Wort aussucht. Die militärische, administrative, politische, wirtschaftliche oder gar magische Kraft wird negiert. Nur das Wort! Zarte und poetische Bilder der Bibel umschreiben diesen theologischen Ansatz (vgl. Jes. 55, 10f). Die reformatorische Theologie nimmt diesen Ansatz auf und stellt programmatisch klar, dass sich das Evangelium kommuniziert und Kirche behauptet „non vi sed verbo“, „nicht durch Kraft bzw. Macht sondern durch das Wort“. Reformatorische Theologie verbindet die Pneumatologie eng mit der Lehre von der Heiligen Schrift. Ihr zufolge ist Gottes Wort in, mitten und unter den Worten der Schrift und in der darin begründeten Kommunikation zu finden. Zugleich bindet sich das Wirken des Heiligen Geistes an das äußerlich wahrnehmbare Wort der Schrift.
  • Die Identifikation der Liebe mit Gott („Gott ist die Liebe.“ 1. Joh 4, 8) zeigt an, dass Gottes liebende Wirkweise unumkehrbar mit der Demut, der Machtlosigkeit und der Sanftheit (vgl. 1.Kor. 13) einhergeht. Trotz der scheinbaren Unterlegenheit wird sie ihre Dynamik entfalten, um alle Schöpfung zu einem guten Ziel zu führen, wo Gott „alle Tränen abwischen wird“ (Apk. 21).

3. Auffälligkeiten in der Kirchengeschichte

Die Herausforderung, Macht und Ohnmacht im Sinne des Evangeliums aufeinander zu beziehen, ist ein durchgängiges Thema der Kirchengeschichte. Ein nicht zu unterschätzender Lernprozess spiegelt sich darin wieder:

  • Als das römische Reicht schrittweise unterging, wurde die Alte Kirche zum Stützpfeiler einer allgemeinen bürgerlichen Ordnung. Dieser Übergang ereignete sich eher prozesshaft. Die Schlacht an der Milvischen Brücke am 28.10.312, bei der eine dem Christentum freundliche Vision des Kaisers Konstantin eine entscheidende Rolle gespielt haben soll, stellt mit dem sogenannten „Mailänder Toleranzedikt“ einen wichtigen Anfangsschritt dar. Das Christentum wurde als legitime Religion im römischen Reich anerkannt und Religionsfreiheit nach den Verfolgungen ihm zuerkannt. Dennoch handelt es sich bei der Ausbildung der Reichskirche um einen länger andauernden Prozess. In der Kirche waren Leistungsträger zu finden, die mit Hilfe eines Mindestmaßes an Organisation, Struktur, Bildung und Kommunikationsmitteln öffentliches Leben und Gemeinschaft organisieren konnten. Sie hatten durch den christlichen Glauben auch eine Vorstellungswelt, welche ein gemeinsames Lebens- und Gemeinschaftsgefühl vermitteln konnte. Ein allmählicher Paradigmenwechsel fand somit beim Untergang des römischen Reiches statt: Die attraktive Außenseiterreligion von machtlosen wird zum staatstragenden Element. Eine ungeheure Spannung wurde dadurch erzeugt. Wir arbeiten heute noch daran.
  • Natürlich entstand dadurch auch eine Konkurrenz der beiden, der weltlich-staatlichen und der kirchlichen Bereiche. Wer darf über wen bestimmen? Die Lehre von den zwei Schwertern, das geistliche und das weltliche, mit denen Gott seine Herrschaft in der Welt ausübt illustriert diesen Konflikt, löst ihn aber nicht. Die Konkurrenz zwischen staatlicher und geistlicher Macht durchzieht oft auch in sehr gewaltsamer Weise die Geschichte des „christlichen Abendlands“. Manchmal, nämlich bei den Fürstbischöfen auf katholischer Seite und bei den Landesfürsten als „Notbischöfe“ auf evangelischer Seite, finden sich beide Seiten dieses Konflikts auch in einzelnen Persönlichkeiten wieder.
  • Auch die lutherische Lehre von den von den zwei Regierweisen Gottes, der zufolge Gott im staatlichen Bereich durch die Androhung von Gewalt Ordnung und Lebensmöglichkeiten schafft und im kirchlichen durch Liebe und das Wort wirkt, löst den Konflikt weder praktisch noch systematisch. Denn gerade der Protestantismus überlebt in der real existierenden Geschichte nur durch die Hilfe staatlicher Gewalt. Zudem braucht er als kirchliche Institution auch Regelmechanismen, die über die Liebe und das Wort hinausgehen.
  • Auf dem Hintergrund der Grausamkeiten der Religionskriege entwickelt sich durch die Aufklärung der säkulare Staat. Er versucht gerade durch die Inanspruchnahme des Gewaltmonopols das Gewaltpotential in der Gesellschaft, das die Kirchen dort mit hineintragen zu beherrschen.
  • Gegenwärtig erleben wir keine bipolare Situation mehr. Vielmehr entstand eine multilaterale Konkurrenzsituation in der postmodernen, kapitalistischen Gegenwart der Informations- und Mediengesellschaft: Jede Institution ringt um Geld, Einfluss und Aufmerksamkeit, weil darüber Macht definiert wird. Die Marktsituation ist paradigmatisch für alle gesellschaftlichen, d.h. auch für die kirchlichen Lebensbereiche. 

4. Kirchliche Versuche, machtvoll zu sein,

um in der bipolaren und heute multilateralen Konkurrenzsituation zu bestehen, gab und gibt es in den Kirchen der Vergangenheit und Gegenwart zuhauf. Sie versuchten und versuchen, mit nicht-kirchlichen Mitteln im nicht-kirchlichen Raum kirchlichen Einfluss zu gewinnen. Hier findet sich:

  • Die Anlehnung der Kirche an staatliche Autorität. Dies ist vor allem auf evangelischer Seite zu beobachten. Es hat u.a. historische Gründe. Schon zu Luthers Zeiten schälte sich das landesherrliche Kirchenregiment heraus, da diese als „Notbischöfe“ in den reformatorischen Umwälzungsprozessen kirchenaufsichtliche Aufgaben wahrnehmen mussten mangels anderer, nämlich genuin kirchlicher Kirche diese Freiheit nicht selbst und schon gar nicht selbstbewusst suchte, was wiederum ihr Position gegenüber den antidemokratischen und nationalsozialistischen Kräften schwächte.
  • Die Kopie staatlicher Autorität. Sie findet sich vor allem auf katholischer Seite. Hier hat es eine gewisse Tradition, mit Garden, mit einem Staat, mit gerichtsähnlichen Ladungen, mit einer eigenständigen Diplomatie u.dgl. umzugehen. Auch dies hat u.a. historische Gründe, die noch weit vor die Reformationszeit zurückreichen.
  • Revolutionäre Begründung von Autorität fand sich kirchenhistorisch auf dem (links-) radikalen Flügel der Reformation. Die Schwärmer und die sozialrevolutionären Kräfte wie Thomas Müntzer (ca. 1490 bis 1525) versuchten mit politischer und militärischer Macht bzw. Gewalt das herbeizuführen, was das Evangelium als Ideal in sozial- und wirtschaftethischer Sicht wünscht. Es misslang. Zum einen unterlagen die sozialrevolutionären Kräften inklusive der aufständischen Bauern der Übermacht ihrer Gegner. Zum anderen schwächten sie sich zum Teil selbst durch ihre eigenen Widersprüche und dem nach innen eingesetzten Terror.
  • Der Einfluss propagandistischer Macht. Nicht zu unterschätzen ist der kirchliche Versuch, durch propagandistische Mittel Macht zu gewinnen. Indem eine Identifikation von kirchlicher Kommunikation mit Gottes Wort behauptet wird, gibt es keinen legitimen Grund mehr, kirchlicher Kommunikation und dem damit verbundenen Wollen zu widersprechen, da Gott in totalitärer Weise die höchste Norm ist und keinen Widerspruch duldet.
  • Die Macht des Marktes. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts scheint die Wirtschaft in globalisierter und neoliberaler Ausprägung, die unumschränkte Herrscherin der Welt zu sein. Der Primat des Politischen in Kultur und Gesellschaft wird sogar von Politkern selbst in Frage gestellt. In der Kirche schreitet parallel die Ökonomisierung voran, um machtvoll am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Auch der Sprachgebrauch im innerkirchlichen Bereicht gleicht sich an die Logik des Wirtschaftlichen an. Wirtschaftsberater finden Einlass in kirchliche Planungsstäbe. Die Macht des Marktes wird in Kirche und Diakonie zum handlungsleitenden Prinzip. Erst die Krise der Weltfinanzmärkte ab dem Jahr 2008 initiiert hier ein anfängliches Umdenken, obwohl die Grundsatzproblematik des real existierenden Kapitalismus mit seiner voranschreitenden sozialen Differenzierung in arm und reich hinlänglich und längst bekannt ist.
  • Die Perfektionierung der Medientauglichkeit. In der postmodernen Informations- und Mediengesellschaft wird Macht über medial inszenierte Aufmerksamkeit produziert und organisiert. Leicht zeitverzögert versucht auch Kirche durch eine Perfektionierung der Medientauglichkeit des Kirchlichen an dieser Quelle der Macht Anteil zu bekommen. Das kirchliche Machtwollen bedient sich dabei der Sprache und der Äußerungsformen der Werbung und der Wirtschaft, der Gewinner- und Konsumentenkultur.
  • Das Wirken von Seilschaften. Immer wieder sind Beispiele zu finden, dass kirchliche Funktions- und Machtträger sich an Seilschaften orientieren bei gleichzeitiger scheindemokratischer Nutzung von gewählten und zuständigen Gremien, frei nach dem Motto: „Not what you know, but whom you know“ ist entscheidend. Diese Vorgänge führen zu einem allgemeinen Unbehagen vor allem beim Zustandekommen von Personalentscheidungen. 

5. Widerständige Erfahrungen

  • Überall dort, wo Kirche sich mit nicht-kirchlichen mitteln Macht aneignet, entsteht ein interner und externer Glaubwürdigkeitsverlust. Karl-Heinz Deschner verdient damit gut, indem er immer und immer wieder diese „Kriminalgeschichte des Christentums“ in Erinnerung ruft. Aber auch kirchenintern sind kirchliche Machtentscheidungen weit davon entfernt konsensfähig zu sein. Die Kritik ist bisher allerdings eher zahnlos, da keine überzeugenden Alternativen der Organisation von Macht vorgebracht werden konnten. Nichtsdestotrotz ist das Unbehagen an kirchlicher Machtausübung kulturprägend.
  • Trotz aller Versuche, Anteil an Machtpotentiale zu erhalten, bleiben Ohnmachtserfahrungen in der Wahrnehmung obenauf, sowohl an der kirchlichen Basis als auch auf Leitungsebene. Auf diese Weise vermehrt sich eine latente und manchmal auch manifeste
    • depressive Grundstimmung.

Die wiederum weckt als Gegenkraft eine

    • Erhöhung des Aktivitätspotentials.

Um die eigene Machtlosigkeit zu überwinden oder zu überdecken, wir ein Projekt nach dem anderen gestartet, wird eine Priorität an die nächste gereiht, werden die Schreibtische aller Pfarrerinnen und Pfarrer mit Papier überfüllt, das nach Aufmerksamkeit schreit. Die einzige Folge davon ist, dass die Terminkalender voller und die professionellen Gewissen schlechter werden. Zugleich nimmt die Berufszufriedenheit bei Pfarrerinnen und Pfarrern ab. 

    • Allenthalben werden Krisenwahrnehmungen in Worte gefasst.

Wir selbst wollen es dabei aber nicht belassen, sondern

 

6. die Krise als Chance

würdigen und ihr einen entwicklungspsychologischen und theologischen Wert beimessen, weil eine Krise als Anlass zu positiven Entwicklungen erfahren werden kann.

Ein afrikanisches Märchen, das Nossrat Peseschkian aufgezeichnet hat in seinem Buch „Der Kaufmann und der Papagei“, mag verdeutlichen, dass Widerstände und Entwicklungen oft positiv aufeinander bezogen sind:

 Durch eine Oase ging ein finsterer Mann, Ben Sadok. Er war so gallig in seinem Charakter, dass er nichts Gesundes und Schönes sehen konnte, ohne es zu verderben.

Am Rande der Oase stand ein junger Palmbaum im besten Wachstum. Der stach dem finsteren Mann in die Augen. Da nahm er einen schweren Stein und legte ihn der jungen Palme mitten in die Krone. Mit einem bösen Lachen ging er weiter.

Die junge Palme schüttelte sich, bog sich und versuchte, die Last abzuschütteln. Vergebens. Zu fest saß der Stein in der Krone.

Da krallte sich der junge Baum tiefer in den Boden und stemmte sich gegen die steinerne Last. Er senkte seine Wurzeln so tief, dass sie die verborgene Wasserader der Oase erreichten, und stemmte den Stein so hoch, dass die Krone über jeden Schatten hinausreichte. Wasser aus der Tiefe und Sonnenglut aus der Höhe machten eine königliche Palme aus dem jungen Baum.

Nach Jahren kam Ben Sadok wieder, um sich an dem Krüppelbaum zu freuen, den er verdorben sehen wollte. Er suchte vergebens. Da senkte die stolzeste Palme ihre Krone, zeigte den Stein und sagte: „Ben Sadok, ich muss dir danken, deine Last hat mich stark gemacht.“

In Krisen werden zum einen Grenzen als existentiell bedrängend erfahren. Aber es gilt zum andern auch der Grundsatz: „Grenzen machen kreativ.“ (Ludger Elfgen, Friedberg). Dass das eine sich mit dem anderen verbinden, kann ist die lösungsorientierte Perspektive der Geistlichen Begleitung. Sie will die Möglichkeiten des Sinns der Krise entdecken.

7. Die Krise als Herausforderung zum Sinn

kommt dort zum Tragen, wo Perspektiven des Umgangs mit Ohnmachtserfahrungen zu finden sind, die auch Gegenstand der Logotherapie sind.

Steine in den Weg legen, Knüppel zwischen die Beine werfen - in jedem menschlichen Leben gibt es Ereignisse, die uns abrupt zur Veränderung zwingen, die uns aus der Bahn werfen, die unsere Lebensplanung über den Haufen werfen, die Menschen in Ratlosigkeit, ja Verzweiflung stürzen können, weil nichts mehr so ist, wie es war.

Von Lebenskrisen bleibt in der Regel kein menschliches Leben verschont.

Dabei sind hier nicht nur krisenanfällige Entwicklungssituationen im menschlichen Leben wie z. B. die Pubertät, Auszug der Kinder aus dem Elternhaus oder Eintritt in den Ruhestand gemeint. Erst Schicksalsschläge, die unwiderrufliche Tatsachen schaffen, fordern uns eigentlich erst in einer radikalen Weise existentiell und spirituell heraus.

Jetzt, genau in solchen individuellen und außergewöhnlichen Krisensituationen, stellt der Mensch die Frage nach dem Sinn seines Lebens in einer unbedingten und nicht nur akademischen Weise. Jetzt, wenn der  Sinn ihm nämlich abhanden gekommen ist, wenn er keinen Sinn mehr erkennen kann in dem, was ihn getroffen hat, wenn er sein Leben für sinnlos hält, werden wir in und zu unserer Eigentlichkeit herausgefordert.

Hier ist auch der Ort, an dem der „Mut zum Sein“, mit dem der Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich den Glauben umschreibt, in seiner radikalen Form lebendig wird. An solchen Grenzen kann fast nur noch in paradoxer Weise Wahres gesagt werden, weil in dieser Sinnkrise alles in den Abgrund der Sinnlosigkeit stürzt und wir dennoch gehalten sind, obwohl nichts und niemand da ist, der hält. Gott wird dabei erkannt, nicht als ein Seiendes neben anderem Sein sondern als Grund des Seins. Sinnkrisen führen uns in ein mystisches Nichts, in dem Gott als „Großes Trotzdem“ erfahrbar wird.

7.1. Schicksalsschläge und Sinn

Unter einem Schicksalsschlag leidet der Mensch, weil er mit dem zutiefst menschlichen Bedürfnis geboren wurde, sinnvoll zu leben, in seinem Leben Sinn zu verwirklichen. Sinnsuche ist ihm angeboren, bzw. von der Schöpfung her von Gott für den Menschen vorgesehen.

Die Suche nach Sinn kann gelingen, wenn der Mensch in seinem Leben eine kopernikanische Wende vollzieht: nicht er, der Mensch, stellt Ansprüche an das Leben, sondern er ist der vom Leben Befragte, er antwortet auf den Anruf des Lebens, er reagiert auf seine Berufung, er folgt dem Ruf Gottes.

Hermann Hesse hat, wie kein anderer Dichter, dargestellt, wie Leben geht. In seinem Gedicht „Stufen“ spricht er vom Ruf des Lebens, der die Menschen ereilt.

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
es will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.

Hermann Hesse 4.5.1941 

Die Frage drängt sich auf: Wo liegen die Möglichkeiten zur Veränderung, wenn das Schicksal eine unabänderliche Tatsache geschaffen hat? Wo ist die positive Veränderung, wenn zum Beispiel der geliebte Partner vor der Zeit gestorben ist, etwa durch eine lebensbedrohliche Erkrankung?

Viktor Frankl als Begründer der Logotherapie stellt sich dieser Frage und antwortet: Wenn der Mensch nicht mehr frei handeln kann, kann er immer noch seine Einstellung ändern.

Der Mensch ist geistige Person, er kann als einziges Lebewesen zu allem Stellung nehmen, was ihm widerfährt. Viktor Frankl, , drückte es so aus in seinem Buch „...trotzdem Ja zum Leben sagen“, in dem er über sein Leben im Konzentrationslager schreibt:

„Ihr könnt mir alles nehmen, aber eins könnt ihr mir nicht nehmen:

Wie ich auf das, was ihr mir antut, reagiere“.

Der Mensch kann als einziges Lebewesen seine Einstellung zu einer Situation ändern. Wenn er sich darauf einlässt, sein Schicksal mutig anzunehmen, kann er innerlich wachsen und reifen.

Er verwandelt Leiden in eine menschliche Möglichkeit, er wird hellsichtig und die Welt wird für ihn durchsichtig.

Einstellungswerte sind im Wertekanon nach V. Frankl die höchsten Werte, die ein Mensch verwirklichen kann. Sie haben nicht nur Priorität, sondern geradezu Superiorität, nämlich ethische Dignität.

Nur in einer radikalen Grenzsituation erfährt der Mensch seine Grenzen bewusst und kann über sie hinauswachsen.

Die sehr alte und chinesische Hochkultur weiß um die doppelte Bedeutung des Wortes „Krise“.

(Bild einfügen)

Das Wort „Krise“ – im Chinesischen „wei-ji“ – besteht aus zwei Teilen: “wei“ bedeutet „Unheil“, „Gefahr“, „ji“ hingegen „Chance“, „Lernchance“.

Die Abbildung der Schriftzeichen lässt dabei auch klar erkennen: die Chance ist immer größer.

7.2. Perspektivwechsel und neue Deutungen

Bedeutsame Botschaften offenbaren sich eher selten im Gewohnheitstrott des Alltags, sie erreichen uns meist durch eine Erschütterung, durch außergewöhnliche Ereignisse.

Wenn ein Bruch im Lebensverlauf geschieht, wenn der Mensch aus seiner Bahn geworfen wird, lautet die Botschaft:“ Du stehst an einem Wendepunkt! Lass los! Kehr um! Fang neu an!“

Das griechische Wort „krisis“ bedeutet „entscheidende Wende“. Wenn von „Ent-Scheidung“ die Rede ist, liegt das Bild des Schwertes, das aus der Scheide gezogen wird, um einen scharfen und klaren Schnitt zu machen, nahe. Es geht um das je eigene Leben exklusiv. Nur das eigene Leben ist so, wie es ist. Nur die betreffende Person reagiert so und nicht anders. Nur sie als individuelle Persönlichkeit antwortet dem Anruf des Lebens auf je eigene, unverwechselbare Art.

Der erste Schritt der Krisenbewältigung ist, „ich“ zu sagen und den rückwärts gewandten Blick nach vorne zu richten.

Wer die Frage „Warum?“ verwandelt in die Frage „Wozu?“, setzt Kräfte frei zur Gestaltung der Situation und eröffnet Sinnperspektiven.

Nur in der Krisenbewältigung setzt ein Mensch seine innersten, seine wertvollsten Kräfte frei. Nicht wenige Künstler haben in einer Krisensituation ihre besten, intensivsten, berührendsten Werke geschaffen.

Salopp drückt dies eine Redensart aus:

„Menschen sind wie Diamanten: erst außer Fassung zeigen sie ihren wahren Wert.“

Wer bei der Warum-Frage stehen bleibt, klagt das Leben an und fordert gleichsam Wiedergutmachung.

Wer sich auf die Frage „Wozu“ einlässt, kann sein Schicksal gestalten. Er lebt verantwortlich. Er verschwendet seine Kräfte nicht in Anklage, Jammern und Schuldzuweisungen, sondern setzt sie ein für sich, für seine Zukunft, zur sinnvollen Gestaltung seines Lebens. Er kann entdecken, was der Apostel Paulus gemeint haben könnte mit seinem provokativen Satz im Römerbrief, Kapitel 8, Vers 28:

„Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen:“ 

Krisen erzeugen Wachstumsschmerzen. Sie sind Begleiter eines Reifungsprozesses.

Reifung geschieht durch Leiderfahrung. Billiger ist menschliche Reife nicht zu haben.

Durch Reifung erreicht der Mensch eine höhere Stufe des Seins. Nun, im Rückblick, kann er erkennen, wozu die Krise gut war, wo ihr Sinn liegt. Nun kann er die individuell an ihn adressierte Botschaft verstehen. Er hat eine neue Dimension der Weltsicht gewonnen.

(Skizze Dimensionalontologie) 

Ähnlich wie ein geometrischer Körper aus verschiedenen Perspektiven sehr verschieden aussehen kann, sieht der Mensch von einer anderen, höheren, manchmal auch schrägeren oder unkonventionelleren Richtung sein Schicksal in einem anderen Zusammenhang. Er erkennt ein größeres Stück seines Lebensmusters. So kann sein Verständnis wachsen und seine Einsicht in Sinnzusammenhänge sich vertiefen.

Aus der herangereiften Perspektive einer anderen, im gewissen Sinn höheren Perspektive fügen sich lose Fäden zum Muster meines Lebensteppichs. Durch Hinaufgelangen zu einem höheren Standpunkt vertieft er seine Einsicht.

Krisen wollen verstanden, begriffen werden, um an ihnen reifen zu können. „Begreifen“ heißt, „in die Hand nehmen“, „festhalten“, „von allen Seiten betrachten, fühlen, halten, aushalten“.

Wenn Menschen den Sinn der Krise zu entschlüsseln versuchen, haben sie schon den ersten Schritt der Entwicklung getan, sind sie schon den ersten Schritt heraus aus der Krise gegangen.

Der Wegabschnitt ist nicht der ganze Weg, die Krise ist nicht das ganze Leben, wohl aber eine ganz besondere, höchst persönliche Chance zur Entwicklung, zur Reifung, zur Sinnerfüllung.

Nun stellt sich die Frage: was steht am Ende? Welches ist der letzte Abschnitt? Kennen wir ihn?

Eine Treppe besteht aus Stufen, die hinauf führen, immer weiter hinauf. Wenn ich auf der 3. Stufe bin, habe ich zwei schon hinter und unter mir. Ich kann dann auf sie hinabschauen.

Was ist am Ende der Treppe? Eine Türe, die sich öffnet, durch die ich hindurchgehen kann?

8. Gott, der Name der Hoffnung

Krisen und Krisenbewältigung nehmen immer auch die letzte große Krise in den Blick: Unsere Ohnmacht im Angesicht des Todes. Spiritualität und Sinn kennen die Frage nach dem Tod und der Hoffnung über den Tod hinaus.

Für den christlichen Glauben ist in diesem Horizont Gott der, der diese radikale Hoffnung in die Welt und in die Herzen der Menschen setzt. 

„Gott“ ist dabei kein Begriff, sondern ein Name. Menschen haben mit ihm eine Geschichte und umgekehrt. Gott hat auch eine Geschichte mit sich selbst. Gott ist auch im Werden. Gott in der christlichen Tradition wird personal gedacht, also beziehungsfähig und auch –willig. Mehr noch: Sein Beziehungswollen ist von Liebe geprägt.

„Gott“ ist ein Name, kein Begriff. Darum interessiert hier weniger das Allgemeine, was metaphysisch über Gott ausgesagt werden kann – oder auch nicht kann. Es interessiert vielmehr das Besondere. Hier, im Besonderen, berühren sich die jeweiligen Krisen- und Gotteserfahrungen der persönlichen menschlichen Individuen auf ihrem je eigenen Individuationsweg.

9. Gott, der Name der Liebe

Wir nehmen bewusst einen explizit evangelischen Standpunkt ein. Wir betonen mit dem reformatorischen Bekenntnis, dass es reine und radikale Liebe Gottes ist, dass es eine Beziehung zwischen Gott und Mensch gibt. Es ist zugleich reine Gnade, dass diese Beziehung zwischen Gott und Mensch gelingt. Es ist zuletzt auch reine Gnade, dass alle Schöpfung zu einem guten Ziel geführt wird. Dieser Geschenk-Charakter des Seins ist der Grund der radikalen Hoffnung für alle und alles. Traditionell ausgesprochen: Das Heil ist keine menschliche Möglichkeit. Es wird dem Menschen und aller Schöpfung sola gratia und darum voraussetzungs- und bedingungslos zugeeignet.

Dieser Hoffnungsgrund wiederum kann letztendlich nicht rational zwingend begründet werden. Vielmehr stellt die Hoffnung als menschliche Haltung einen existentialistischen Glaubensakt dar. Der Glaubende bekennt zugleich, dass der Glaube selbst ein Geschenk der Heiligen Geistes ist. Er befindet sich hiermit in einem hermeneutischen Zirkel: Letztendlich kann Gott und Glaube nicht von etwas anderem abgeleitet werden. Sie begründen sich selbst.

Weil aber dies alles „noch nicht“ offenbar ist, obwohl „schon jetzt“ die Erlösung in Hoffnung und Liebe antizipiert wird und sich kraftvoll im Leben äußert, glauben wir, das sowohl Gottes Sein als auch das Sein des Menschen im Werden ist. Wachstum gehört zur Schöpfung in allen Bereichen dazu. Darum ist der Begriff der Entwicklung ein theologisch wertvoller. Es gilt ihm Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

10. Entwicklung und Wachstum

sind häufig gebrauchte Worte. Sie versprechen eine gefühlte Sicherheit zu wissen, was damit gemeint ist, obwohl genaue Definitionen im nicht-arithmetischen Bereich selten sind. Besonders Zieldefinitionen, wohin ein entwicklungspsychologisches Wachstum geht oder gehen soll, fehlen oft. Da aber ohne Klarheit über das Ziel keine hinreichenden Maßstäbe zur Beurteilung von Wachstumsprozessen gegeben sind, werden hier Zielvorstellungen auf dem Hintergrund biblischer Anthropologie vorgestellt und als Zielkoordinaten angenommen.

10.1. Zieldefinition von Wachstum nach biblischem Verständnis

10.1.1. Ein reifer Mensch kann Gott loben und ihm danken. Er hat eine rationale Einsicht und zugleich ein tiefes inneres Empfinden, dass er sich nicht selbst verdankt. Sein Leben und das, was dazu gehört, ist ihm geschenkt. Diesem Geschenk gegenüber verhält er sich emotional positiv. Sein positives Verhältnis zum Leben als Geschenk samt allem, was dieses Leben am Leben erhält, kann er angemessen gegenüber sich selbst, dem Mitmenschen und vor allem gegenüber Gott kommunizieren.

10.1.2. Ein reifer Mensch kann klagen und mitleiden. Er nimmt wahr, dass etwas mit dieser Welt nicht stimmt, dass es eine Gerechtigkeitslücke gibt, dass Menschen leiden und Leid verursachen, dass es auch unverschuldetes Leid auf dieser Welt gibt. Im Angesicht der Botschaft der Liebe und der Allmacht Gottes stellt er die Theodizee-Frage. Sie ist die Grundfrage des Menschen, der Gott sowohl in seiner Liebe als auch in seiner Macht ernst nimmt. Er erkennt dabei den Zweifel als einen legitimen Partner des Glaubens, weil der Glaube in Konfrontation mit der Wirklichkeit zu einem Konflikt kommen muss. An beidem, an Gottes Liebe und an seiner unbedingten Macht, hält er fest und kann darum die Theodizee-Frage im Angesicht konkret erfahrenen Leids nicht rational lösen. Zugleich lässt er sich selbst in Frage stellen und übernimmt Verantwortung für seine Schuld und für das Ergehen seiner Mitmenschen und Mitgeschöpfe. So sieht der reife Mensch die Theodizee- und Anthropodizee-Frage (die Frage nach der Gerechtigkeit bzw. Rechtfertigung des Menschen) stets aufeinander bezogen und lässt sich von beiden existentiell und empathisch herausfordern.

10.1.3. Ein reifer Mensch lebt Beziehungsfähigkeit. Er bejaht rational, emotional und handlungsbezogen, dass jeder Mensch am „Du“ zum „Ich“ wird. In der Beziehungsfähigkeit erkennt er die Gottebenbildlichkeit des Menschen schlechthin und nimmt sie als Geschenk des beziehungsfähigen Gottes an. In dieser Beziehung wird der Mensch auch zum Co-Kreator des Gottes, der alles gemacht hat, und gestaltet die Welt zum Nutzen aller als Verantwortung Tragender und als verantwortungsvoller Sachwalter Gottes.

10.1.4. Ein reifer Mensch erkennt und verwirklicht seine je eigene Mission und Berufung. Er bejaht den Sinn, den sein Leben hat, und den er zu erkennen sich bemüht. Ein reifer Mensch wird darum auch jenseits aller allgemeinen Überlegungen zur Theodizee- und Anthropodizee-Problematik zu seiner eigenen ganz persönlichen und praktischen Antwort kommen und diese mit seinem Leben und seiner Existenz füllen. Er wird das große „Trotzdem“ entdecken und leben. Elemente dieser Entdeckung werden die Liebe und die Hoffnung sein.

10.2. Wege zum Ziel

werden durch die Begegnung Gottes mit dem Menschen beschritten.

Ausdruck des Glaubens für diese Begegnung sind das Gebet und das Wort Gottes, wie es in den Urkunden des Glaubens, in der Bibel der beiden Testamente, niedergelegt ist. Das heißt: Gott legt mit dem Menschen einen Individuatíonsweg zurück. Er begleitet den Menschen dabei nicht nur, sondern regt auch seine Schritte an und gibt ihm Kraft dazu. Dieses Auf-dem-Weg-Sein Gottes mit dem Menschen kann auch als ein Begegnungsprozess beschrieben werden, bei dem Reden und Hören eine zentrale Rolle spielt.

Im Gebet redet der Mensch. Gott hört. Beim Reden zu Gott legt sich der Mensch fest. Er definiert sich und findet sich selbst, indem er klar ausspricht, was er von Gott, dem Grund seines Seins und seiner Hoffnung, erwartet. Wofür er ihn lobt beschreibt, wofür sich der Mensch nicht selbst die Ehre gibt. Wer zu Gott redet, nimmt eine Position gegenüber Gott, sich selbst, den Mitmenschen und der Welt ein.

Im Kommunizieren der Heiligen Schrift der beiden Testamente redet Gott. Der Mensch hört. Beim Lesen der Bibel, wird Gottes Wort unter den Worten der Heiligen Schrift erfahren. Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen. Vielmehr stellt sie das Produkt von dialogischer Kommunikation über Milieus und Generationen hinweg dar. Menschen werden in diesen Dialog mit hineingenommen. Und in der dialogischen Aneignung dieser Überlieferung verstehen Menschen Gottes Beziehung zu uns. Dieses Verstehens-Ereignis ist Gottes Wort. Es hat dabei einen Geschenk-Charakter, weil das Verstehens-Ereignis von Gottes Botschaft unverfügbar ist. Mit traditionellen Worten ausgedrückt: Es ist ein Geschenkt des Heiligen Geistes und insofern ein inspirierter Verstehensakt.

Gott beruft den Menschen auf einen Weg, das zu werden, was er von der Schöpfung her eigentlich schon ist, aber noch nicht „heraus“ ist. Gott fordert den Menschen heraus, seine je eigene Berufung zu entdecken und sie zu bejahen. „Individuation“ ist heilig und von Gott in der Schöpfung des Menschen bereits angelegt. Dieser Prozess kennt besondere, individuelle Krisen, die wiederum Orte der besonderen, existentiellen Gotteserfahrung sind. Auch allgemeine Krisen, die die Entwicklungspsychologie näher beleuchtet, sind Orte intensiverer Lebensfülle und in Gottes Namen wertzuschätzen.

11. „Geistliche Begleitung“ als Entdeckungshilfe der Macht der Ohnmacht

nimmt diese Wege zum Ziel ernst. Sie rechnet damit, dass der Heilige Geist, Gott selbst, Menschen führt. Sie brauchen also keine spirituelle Seelen- oder Personalführung in einem autoritären, direktiven oder heteronomen Sinn. Begleitung ist alles. Keine Führung!  Distanz zur Macht! Befreundung mit der scheinbaren Ohnmacht!

Bei der „Geistlichen Begleitung“ geht es im Umgang mit Macht und Ohnmacht um einen Paradigmenwechsel im kirchlichen Bereicht. Es wird hier nicht mehr darauf geschielt, was sich machtvoll im Bereich der Politik, der Medien und der Wirtschaft auswirkt und dann auf den kirchlichen Bereich übertragen. Die „Geistliche Begleitung“ setzt wieder bei der scheinbar ohnmächtigen Wirkweise Gottes ein, der sich nach unserer evangelischen Überzeugung durch sein Wort, also in einem Kommunikationsgeschehen ins Gespräch, ins Spiel und in die Welt bringt. „Geistliche Begleitung“ geht davon aus, dass es genügt, sich als Individuum und als soziale Gruppe in diese Kommunikation hinein zu begeben. Die Kommunikation von Gottes Wort als innerer Kern des Kommunikationsgeschehens in seinem Namen wird wirksam werden. 

Die Leitfragen werden dabei eine Akzentverschiebung erfahren:

Die Fragen: „Wie ist unser Leitbild?“, „Was ist marktgängig?“, „Was ist effizient?“, werden abgelöst von der Suche nach den Orten der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit, nach der Dynamik der gesegneten Prozesse und der Hoffnung des „Großen Trotzdem“, das aus einer dankbaren Überschusserfahrung heraus wächst.

„Geistliche Begleitung“ hat eine distanzierte Haltung zur staatlichen und kirchlichen, wie zur therapeutischen und wirtschaftlichen Macht.

Darum ist „Geistliche Begleitung“ abzugrenzen von der Therapie. Bei therapeutischen Interventionen geht es in der Regel um mehr oder weniger direktive Interaktionen, um einen erwünschten Heilungs- oder Anpassungsprozess zu ermöglichen oder zu beschleunigen. Carl Rogers und seine non-direktive Gesprächspsychotherapie, die viele Ähnlichkeiten mit der Seelsorge hat, möge dabei eine Ausnahme sein.

Im Grunde ist „Geistliche Begleitung“ auch abzugrenzen von der Seelsorge im herkömmlichen kirchlichen Handlungsfeld. Denn bei der Seelsorge geht es in der Regel um die Vermittlung von Lebensgewissheit durch Glaubensgewissheit, also um Trost und Krisenbewältigung durch den Zuspruch von Gottes bedingungsloser Gnade in die jeweilige persönliche Lebenssituation hinein. Dabei können durchaus auch Elemente des analytischen, therapeutischen Gesprächs hinzu kommen, bilden aber längst nicht den Rahmen.

Ziel der Seelsorge ist stets, aus der Krise baldmöglichst heraus zu kommen.

12. „Geistliche Begleitung“ als Individuationshilfe

Bei der „geistlichen Begleitung“ geht es um ein gemeinsames Suchen und Spüren nach einem tieferen und wohl auch bewussteren Verständnis des Weges Gottes mit dem jeweiligen Menschen. „Geistliche Begleitung“ ist so etwas wie eine partnerschaftliche Individuationsbegleitung für den je eigenen Weg, den Gott mit dem Menschen oder mit einer Gemeinschaft geht, eine spirituelle Geburtshilfe vielleicht.

Die Grundfragen bei der „Geistlichen Begleitung“ lauten: 

Wo stehst du auf deinem dem Weg mit Gott?

Was und wie könnte der nächste Schritt auf deinem spirituellen Weg sein?

Wo und wie ist deine persönliche Berufung, deine Mission?

Welchen tiefen Sinn haben deine Krise und deine besonderen Erfahrungen?

Was soll und muss durch die aktuell erlebte Krise erschüttert werden?

Bei wem soll diese Krise überhaupt Erschütterungen letztendlich bewirken?

Worin besteht deine eigene Rolle in dieser Krise als Erschütterungsprozess?

Was spricht Gott zu dir im Angesicht dieser Fragen?

Was sprichst du zu ihm?

Diese Fragen können unter Umständen – anders als beim seelsorgerlichen Ansatz – für die „geistliche Begleitung“ auch bedeuten, dass Menschen und Gruppen ermutigt werden, erst einmal in der Krise zu bleiben oder noch bewusster hineinzugehen, weil die Krise eine Botschaft hat. Sie ist Gottes besonderer Weg mit einem individuellen Menschen oder einer besonderen Gruppe.

13. „Geistliche Begeleitung“ als Kommunikationshilfe

 13.1. Hörschule

Geistliche Begleitung“ ist auch eine gemeinsame Hörschule für Gottes Wort. Sie lehrt Menschen sowohl rational, als auch kulturell und dialogisch wie seelisch-tiefenpsychologisch auf Gottes Wort zu hören. Kommunikationshemmnisse nimmt sie vorbehaltlos wahr und interpretiert sie als ein Existential, das alle Menschen betrifft.

13.1.1. Rationalität

Ein rationales Hören auf Gottes Wort bedeutet, wahr und ernst zu nehmen, dass sich Gottes Wort unter den Bedingungen menschlicher Kommunikation ereignet. Darum sind alle Erkenntnisse der wissenschaftlichen Theologie und historisch-kritischen Exegese auch von spiritueller Wichtigkeit. Wir leben alle, die Verfasser der biblischen Schriften und wir selbst als Gegenwartsmenschen, unter den Bedingungen menschlicher Kommunikation und sind geschichtlich von unserer je eigenen Welt geprägt. Hier sind Übersetzungsleistungen gefragt.

13.1.2. Inkulturation

Ein kulturelles Hören auf Gottes Wort bedeutet wahr und ernst zu nehmen, dass die Kommunikation von Gottes Wort nur gelingen kann, wenn die kulturellen Codes von Sender und Empfänger verstanden werden, zugleich aber das Versprachlichen von Glaubensinhalten auch wieder die Kultur der jeweils Lebenden prägt.

Ähnliches gilt beispielsweise auch für die Bilderwelt der modernen Medienlandschaft: Was wäre ohne die Bilder- und Symbolwelt der Bibel? Was wäre die Werbung ohne sie? Fast überall tauchen apokalyptische Symbole, messianische Helden, engelgleiche Helfer oder dämonische Gestalten auf. Die Bezugnahme auf diese Symbolwelt vermehrt den finanziellen Erfolg der Werbe- und Filmindustrie. Wäre es anders, würden die Macher und Profiteure der Werbe- und Medienwelt es in einer freien Wirtschaft nicht tun.

13.1.3. Dialog

Ein dialogisches Hören auf Gottes Wort bedeutet, wahr und ernst zu nehmen, dass die Heilige Schrift selbst ein Produkt des Dialogs ist. Wir sollen da mit hineingenommen werden, worüber Menschen in Gottes Namen, zum Teil über viele Generationen hinweg, reden.

13.1.4. Tiefenpsychologie

Ein seelisch-tiefenpsychologisches Hören auf Gottes Wort nimmt wahr und ernst, dass die Sprache unserer Seele die der Bilder und nicht die der Begriffe ist.

Die Bibel selbst problematisiert auf der einen Seite diesen Sachverhalt mit Hilfe des Bilderverbots in den Zehn Geboten. Auf der anderen Seite entfaltet sie zugleich mit Worten eine Bilderwelt für die Seele, um das auszudrücken, was man mit bloßen Worten eigentlich nicht sagen kann. Es geht also um eine Übersetzungsarbeit zwischen Bildern und Bildlosigkeit, zwischen Gesagtem und Gemeintem, um ein tiefes, inneres, seelisches Verstehen zu ermöglichen. Moderne Kommunikationsmehtoden und Therapieformen wie zum Beispiel das „Neurolinguistische Programmieren“ (NLP) nehmen unter anderem diese Einsicht konstruktiv auf und verarbeiten sie therapeutisch.

13.2. Sprachschule

Geistliche Begleitung“ ist auch eine gemeinsame Sprachschule für das Reden mit Gott. Die individuell verantwortete Versprachlichung der Beziehung von Gott und Mensch ist als ein performativer Akt zu verstehen. Reden ist Handeln.

13.2.1. Selbstdefinition des Menschen vor Gott

Menschen werden ermutigt zu einer Selbstdefinition vor Gott. Selbstdefinitionen dann auch wieder verlassen werden, wenn es für den je eigenen Weg angezeigt ist. Die Erfahrung zeigt, dass keine Schritte auf einem konstruktiven Weg möglich sind, wenn nicht zuvor auch ein Standpunkt eingenommen wurde. Dieser versprachlicht sich automatisch. Die Sprachlichkeit des menschlichen Selbstverständnisses und der menschlichen Selbstdefinition bringt automatisch das Bekenntnis und das Gebet hervor.

13.2.2. Ethik

In der „Geistlichen Begleitung“ geht es nicht darum, Ethik heteronom zu begründen und in das menschliche Denken und Handeln als etwas Fremde und von Außen Kommendes einzuführen. „Geistliche Begleitung“ hat eine automatische innere Distanz zum pflichtethischen Ansatz.

Hingegen legt „Geistliche Begleitung“ Wert und den Fokus darauf, wie Welt, die eigene Person, die Geschichte Gottes mit uns, die eigene Gegenwart wahrgenommen und interpretiert wird. Sie fragt nach der Konkurrenz unserer Worte und Selbstdefinitionen mit den Worten und Beziehungsdefinitionen Gottes, wie sie uns in den Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments überliefert sind. Und diese jeweilige Wahrnehmung und Interpretation von (Beziehungs)Wirklichkeit entbindet ethische Kraft.

Zugleich eröffnet „Geistliche Begleitung“ in ethischer Hinsicht eine „heilige Gelassenheit“, weil sie mit dem verborgenen Handeln Gottes rechnet, das jede menschliche Möglichkeit sowohl einschließt als auch überschreitet. Sie hilft Menschen, gleichsam in den Strom des Segens und Wirkens Gottes einzutauchen, sich tragen zu lassen und mitzuschwimmen. Sie unterscheidet wach die passiven und aktiven Anteile des Menschseins und hilft, sie lebendig aufeinander zu beziehen. Ihr Fundament ist dabei die paulinische und reformatorische Grundeinsicht, dass in Heilsfragen der Mensch schlechthin passiv ist, weil Gottes Gnade ein reines Geschenk ist, das Gott uns vorbehalt- und bedingungslos gibt. Menschliche Aktivität in Sachen Spiritualität und Ethik baut auf diesem Fundament der puren Gnade auch. Niemals umgekehrt! Diese Gnadenzueignung Gottes an den Menschen und das menschliche Verhalten dazu ist nach evangelischem Standpunkt auch niemals als eine gestufte Wechselseitigkeit zu verstehen, derzufolge Gott einen Schritt dem Menschen entgegenkommt, dann tut es der Mensch, dann geht Gott wieder einen Schritt auf den Menschen zu usw.. Evangelische Geistliche Begleitung und Protestantische Soteriologie halten vielmehr daran fest, dass der Mensch in allen seinen Lebensvollzügen, also auch in den spirituellen und ethischen, immer ganz und gar Sünder und zugleich unendlich von Gott Geliebter und Gerechtfertigter ist. Geistliche Begleitung ist hier in einer geradezu existentialistischen Art immer widerständig, anspruchsvoll und suchend.

In praktischen Fragen und bürgerlichen Entscheidungen hingegen betont „Geistliche Begleitung“ die Freiheit des Menschen und provoziert deren Inanspruchnahme.

Es ist eine absolut gute Botschaft, dass der Mensch vor Gott radikal passiv ist. Nur so kann der seiner selbst nicht sichere Mensch seines Heiles gewiss sein. Diese Passivität entbindet Kraft und Entschlossenheit in allen Bereichen des Lebens frei und aktiv zu sein, die nicht das ewige Heil betreffen. Sogenannte Sachzwänge werden damit entgöttert und entmythologisiert. Der bürgerlichen Freiheit aller Menschen wird der Weg geebnet.

Zugleich erfährt die Inanspruchnahme der Freiheit, die immer und radikal auch die Möglichkeit des Scheiterns und Fehlens umschließt, durch die Betonung der geschenkten Vergebung zusätzliche Kraft. Die Freiheit wird auch befreit – von der Angst vor der Schuld bzw. von der Angst vor Schuldgefühlen. Gottes Vergebung und vorbehaltlose Hinwendung zum Menschen, der innere Kern der Geistlichen Begleitung, ermächtigt zum verantwortlichen Handeln.

14. „Geistliche Begleitung“ als Entdeckungshilfe der Macht der Liebe

14.1. Theologische Grundkoordinaten im Hinblick auf Gottes Liebe werden betont in den Blick genommen. Der Fokus liegt auf

  • der Schöpfungstheologie, dass das Motiv Gottes für alles Schöpferhandeln die Liebe ist,
  • der Trinitätstheologie, dass Gott in sich beziehungsreich und dynamisch Liebe ist,
  • der Erwählungstheologie, dass Gott sein Volk aus Juden und Christen in Liebe erwählt hat,
  • der Soteriologie, dass die Erlösung durch Jesus Christus geschieht, weil Gott den Menschen liebt,
  • der Pneumatologie, dass im Hier und Jetzt Gott eine liebende Beziehung zu Menschen und durch Menschen zu seiner gesamten Schöpfung will und fördernde sowie erlösende Beziehungen zwischen Gott und Mensch schafft
  • der biblischen Hermeneutik, dass die menschlichen Erfahrungen von Liebe gleichnisfähig sind für die Liebe Gottes zu den Menschen,
  • der Ethik, dass Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung die politischen Konsequenzen der Liebe Gottes sind. Der Mensch hat eine unbedingte Würde als geliebtes Ebenbild Gottes. Darum sind Artikel eins im „Grundgesetzt der Bundesrepublik Deutschland“ samt der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ säkulare Formen des Evangeliums. 

Das biblische Votum aus dem ersten Johannesbrief in Kapitel vier, Vers 16b Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ ist programmatisch.  

14.2. Kritische Distanz

Zugleich muss wahrgenommen werden, dass der Begriff „Liebe“ wie der Name „Gott“ eine Inflation ausgesetzt ist. Beides muss in Geschichte und Gegenwart für so vieles herhalten, dass ein informatives Rauschen und damit eine zwangsläufige Unschärfe entstehen. Mitunter ist auch vom Missbrauch dieser Worte zu reden. Viel Zweideutiges und Gewaltsames wurde schon in Gottes Namen in die Welt gesetzt, im Namen der Liebe auch. Dies kann umso leichter geschehen, als das grundlegende Bedürfnis nach Liebe eine anthropologische Konstante ist. Dies gilt für jede Alter. Allein die Ausdrucksformen dieser grundlegenden Sehnsucht ändern sich.

Die Sozial- und Entwicklungspsychologie lehrt, dass kein Mensch ohne die Grundgegebenheit von Liebe ein menschenunwürdiges oder autonomes Leben führen kann. Auch die alltägliche Lebenserfahrung im Umgang mit Kindern lehren, dass kein Leben gut starten und gelingen kann ohne die elementaren Zuwendungen menschlicher Liebe. Die sogenannten Kaspar-Hauser-Experimente, bei der Jungtiere ohne Kontakt zu ihren Eltern aufgezogen werden, legen zudem nahe, dass dieser Befund auch als eine allgemeine Konstante der Schöpfung interpretiert werden will.

Der Gebrauch der Vokabel „Liebe“ als auch „Gott“ steht unter der Kritik des zweiten Gebots in Exodus 20, Vers 4: „Du sollst dir kein Bildnis machen von etwas, das im Himmel oder auf der Erde ist. Bete es nicht an!“

Das dritte Gebot ist ihm wesensmäßig verwandt: „Missbrauche nicht den Namen Gottes.“ Auch das Wort „Liebe“ steht im biblischen Kontext unter dem Schutz dieses Gebots.

Wir nähern uns dem Phänomen „Liebe“ und dem Namen „Gott“ darum mit Vorsicht, mit Ehrfurcht und der Bereitschaft zu innerer Distanz, um unsere bereits vorhandenen Bilder unserer Vorstellungswelt auch infrage stellen und überholen zu lassen.

14.3. Annäherungen an die Gleichnisfähigkeit menschlicher Liebe

Wir entdecken dabei die Liebe der Eltern zu ihrem Kind und nehmen wahr, dass die Heilige Schrift in Jesaja 66, 13 und öfter dies als Gleichnis der Liebe Gottes zum Menschen in Worte fasst. Jesus selbst spricht Gott als „Abba“, also als „Vater“ bzw. „Papa“ an.

Wir entdecken auch die die erotischen Liebe und die Lust und nehmen wahr, dass das Hohelied des Alten Testaments und die biblischen Motive von Braut und Bräutigam damit die Beziehung Israels zu Gott, der Kirche zu Gott bzw. Jesus Christus beschreiben.

In der Mystik wird diese Analogie auch auf die Beziehung der einzelnen menschlichen Seele zu Gott oder Christus angewandt.

Die selbstlose Liebe, „Agape“, die es nicht überall aber doch in vielfältigen menschlichen Lebenszusammenhängen gibt, begegnet im sogenannten „Hohenlied der Liebe“ im ersten Brief des Paulus an die Korinther im 13. Kapitel, in den Motiven des „Lammes“, des Gottesknechtes bei Jesaja und in der Christusliebe selbst.  

Auch die Freundschaft als Lebensform der Liebe, kommt bei Jesus selbst vor, um sein Verhältnis zu den Menschen, die ihm nachfolgen, zu qualifizieren. Im 11. Kapitel des Johannesevangeliums lässt der Evangelist Jesus ausführlich darüber reden.

Zudem gilt, dass sowohl die eher homoerotisch konnotierte Freundschaft zum Jünger, „den Jesus liebte“ (Joh. 13, 24) und der an seiner Brust lag (Joh. 21, 20), als auch die heteroerotischen Aspekte in der Männerfreundschaft mit typische heterosexuellen Konkurrenzanteilen zwischen Petrus und Jesus hier gleichnisfähig und paradigmatisch sind.

14.4. die Liebe, ein Paradox

Ein Paradox wird definiert als ein scheinbarer Widerspruch, der sich auf einer höheren Ebene (auf)löst.

Die Liebe verzichtet als ein intrinsisches Motiv auf jede Form von Zwang, Druck oder Gewalt. Auch etwaigen Belohnungen steht sie durchaus kritisch gegenüber, weil sie (ähnlich der Neugier, der Freude und dem ästhetischen Gefühl) aus dem inneren Wesenkern des Menschen entspringt. Extrinsische Einflussnahmen von außen können sie sogar zerstören. Darum ist die Liebe innerlich verbunden mit der Ohnmacht. Da sie nichtsdestotrotz als starke Kraft erfahren werden kann, muss sie als ein paradoxes Phänomen wahr und ernst genommen werden.

Ähnlich wie bei der „Macht der Ohnmacht“ (s.o.) erscheint die „Macht der Liebe“ als „Wirkmacht“ oder „Wirkung“. Für sie zu sensibilisieren ist eine der wesentlichen Aufgaben der „Geistlichen Begleitung“.

14.5. Wirkmacht der machtlosen Liebe

Die Liebe der Eltern entwickelt in ihrem Kind, sofern sie ein reifes Einverständnis in ihrem paradoxen Charakter hat, eine grundlegendes Gefühl des Angenommen-Seins und ankert zugleich beim Kind gute intrinsische Motive.

Die erotischen Liebe und die Lust, die ja in gewisser Weise „etwas haben will“ ist, kann wiederum in paradoxer Weise eine Ermöglichung der Freiheit sein, weil der Eros zu Grenzüberschreitungen und zu Angstüberwindungen kraftvoll ermuntert. Literatur, Kunst, Musik und Filmkultur beschreiben diese Erfahrung immer und immer wieder. Dramatik, Faszination, Glück und Unglück werden kultur- und zeitübergreifend thematisiert. Die Rezeption von Romeo und Julia stehen paradigmatisch dafür ein.

Die Erotik gehört neben der Spiritualität, dem Unterbewussten und der nicht-domestizierten, authentischen Natur zu den „Bereichen des Wilden“ und hat die Kraft, Herkömmliches, kulturelle Übereinkünfte und Tabus zu relativieren oder gar zu überspringen.

Die selbstlose Liebe, „Agape“, entspringt individuellen Begegnungen und Erfahrungen und entfaltet gerade im gesellschaftlichen Bereich Kraft und Dynamik, weil in ihr durch das Hingeben und Verschenken ein „empowerment“ der Schwachen erfolgen kann. Zugelich ermuntert sie zu einem Perspektivwechsel, nämlich Situationen aus der Sicht des jeweils anderen wahrzunehmen. Menschenrechte und die Verankerung der unbedingten Menschenwürde werden auf diese machtlose Weise zu machtvollen Axiomen von Politik und Gesellschaft.

Die Freundschaft erweist ihre machtlose Macht in der Treue auch über verschiedene Lebensphasen und ihre darin vorkommenden Desillusionierungen hinweg. Sie sorgt für Stabilität im Wandel. Paradigmatisch für diese Lebensform der Liebe mag nochmals die Beziehung von Jesus und Petrus gelten, indem sie ihre Beziehung Bestand hat auch über wechselseitige Enttäuschungen hinweg: Jesus widersprich dem Bild, das Petrus von Jesus Weg hatte und Petrus widerspricht den Erwartungen die Jesus und er selbst auch an Petrus hatte. Nichtsdestotrotz ging die Freundschaft verwandelt aber beständig weiter.

14.6. Definitionen

Die Macht der Liebe ist ein Beziehungsgeschehen, das eine Dynamik hin zum Guten entwickelt. Sie speist sich aus intrinsischen Motiven, verzichtet dabei auf äußere Machtmittel und kann unter allen Bedingungen wirken.

„Geistliche Begleitung“ klärt in diesem Beziehungsgeschehen intrinsische Motive, Standpunkte und Wege, damit Menschen in individueller Weise das Lieben lernen ihre Berufung als durch Liebe Gerufene und zur Liebe Ermächtigte konkret auf ihrem Lebensweg erkennen.

Das innere Verstehen von Gottes Liebe zu uns Menschen ermöglicht die gelebte Einheit von Selbst-, Nächsten- und Gottesliebe im Fühlen, Denken, Reden und Handeln des Menschen.

Dadurch wird eine Dynamik zum Guten frei gesetzt in psychischer, ethischer, politischer und spiritueller Hinsicht. Dabei korrespondiert spirituelle Reife mit der Bereitschaft zu ethischem Handeln. So wird Spiritualität in reifer Form immer auch politisch.

15. Schlussbemerkung

„Geistliche Begleitung“ ist gut und ist wichtig. Sie ist von Anfang an eine Dimension kirchlicher Spiritualität. Darum gibt es gute Gründe, dass in den Zentren der Ausbildung für „Geistliche Begleitung“ auf die Erfahrungen der Alten Kirche, insbesondere der Wüstenväter, zurückgegriffen wird. Auch die Traditionen der Mystik spielen eine wichtige Rolle. In unserer Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern wurde entdeckt, dass es ein Defizit im Hinblick auf geistliche Begleitungen gibt. Es ist gut, dass nun hier verstärkt Fortbildungsangebote gemacht werden. Unsere kirchliche Kultur wird sich dadurch ändern. Spirituelle Kompetenz wird zunehmen. Die Kategorie der besonderen Berufung wird stärker betont werden, ebenso die Einheit von Ethik und Spiritualität.

Zugleich soll hier auch betont werden, dass noch theologische Arbeit wartet auf unsere Kirche bei der Ausbildung in und im Umgang mit „geistlicher Begleitung“. Die theologische Begründung innerhalb der evang. Kirche ist noch etwas dürftig. Oft müssen sich Argumentationen aus eher katholischen Quellen (Ignatius von Loyola) als aus reformatorischen speisen. So kommt unversehens wieder das bekannte katholische, zweistufige Gnadenmodell zur Sprache und zu Einfluss. Hier müsste soteriologisch noch einmal neu beim reformatorischen Ansatz, bei der Wort-Gottes-Theologie, der Soteriologie und der Pneumatologie eingesetzt werden. Viel Arbeit bedeutet dies, da auch historisch bedingte Defizite (Reflexionsdefizit im Bereich der Pneumatologie aus Angst und Verunsicherung durch die sogenannten Schwärmer und Spiritualisten), die vor Jahrhunderten entstanden sind, aufgearbeitet werden müssten.

Der therapeutische und hermeneutische Ansatz beim „Neurolinguistische Programmieren“ (NLP) ist hilfreich, weil er für die Wort-Gottes-Theologie eine Brücke bauen kann zur gelebten Spiritualität. Denn „glauben“ heißt „ganzheitlich deuten in Gottes Namen“.

Das NLP setzt ebenso bei der Hermeneutik an und betont, dass wir nicht wissen, wie die Welt ist. Wir wissen nur, dass wir sie deuten. Selbst die jeweilige Deutung liegt meist im Unbewussten verborgen. An den bewussten oder unbewussten Deutungen leiden wir unter Umständen. Diese Deutungen sind in uns durch die Sinne, also visuell (Bilder), akustisch (Worte, innere Dialoge, Klänge, Geräusche) oder kinästhetisch bzw. olfaktorisch-gustatorisch gespeichert.

Die Grundfrage im Angesicht von Krisen lautet demnach: Wie kann ich zu besseren Deutungen kommen? Wie helfen mir die Sinne und deren innere Repräsentation dazu? Wie kann ich diese eventuell vorhandenen besseren Deutungen auch ganzheitlich verstehen, so dass sie positiv mein Empfinden und mein Leben prägen?

Im Augsburger „Annahof … im Zentrum evangelisch“ ist bzw. war am „Annapunkt … ansprechBar“ eine Kontaktstelle für Suchende im Hinblick auf „Geistliche Begleitung“ mitten in der Stadt und für jeden offen. Ich gehe davon aus, dass solche niederschwelligen Angebote im Rahmen von Citykirchenprojekten in Zukunft noch stärker gefragt werden. Alle Kirchen werden in ihrer spirituellen Kompetenz stärker herausgefordert werden, weil die Suchenden der New-Age-Szene und des Esoterik-Booms bald vermehrt auf qualitätsorientierte Spiritualität im kirchlichen Bereich zurück kommen wollen.

Die deutsche Nachkriegszeit ist allmählich vorbei. Die Generation derer, die Krisen lieber verdrängen als bearbeiten, ist demographisch im Rückgang begriffen.

Es ist nun damit zu rechnen, dass es einen Aufschwung für die Motivation gibt, Verdrängungen nicht nachzugeben sondern eigene Reifungsprozesse voran zu bringen. Menschen merken vermehrt, dass Krisen, die aus der Tür hinaus geworfen werden, zum Fenster als „Kräftedieb“ wieder herein kommen.

Während Menschen, Gruppen und Gesellschaften, die in den eigenen Krisen stecken bleiben, als Kräfteverschleiß erlebt werden, sind solche, die Antworten durch Krisen gefunden haben, eine Kraftquelle des Guten und der Hoffnung. Die stete global mediale Präsenz von Persönlichkeiten, die dies repräsentieren, ist ein Beleg hierfür. Nelson Mandela und andere inspirieren weltweit.

Der mutige Blick auf Krisen verweist uns auch auf den Gottesknecht des Alten Testaments, dessen Bild auch auf Jesus übertragen wird: „Durch seine Wunden sind wir(!) geheilt.“ (Jes 53,5). Hier erscheint die Krise als kollektive Chance.

 

Johanna Fischer, Logotherapeutin, Frankl-Forum Augsburg

Frank Witzel, evang. Projekt-Pfarrer im Annahof in Augsburg, geistlicher Begleiter, NLP-master 

Augsburg im März 2008